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Sonntag, 14. Juni 2020

REZENSION: Die Tuchvilla


Titel: Die Tuchvilla (LINK zu AMAZON)
Autorin: Anne Jacobs
Verlag: Blanvalet
Seiten: 705 Seiten


Kurzinhalt (Verlagstext):

Ein Herrenhaus. Eine mächtige Familie. Ein dunkles Geheimnis …

Augsburg, 1913. Die junge Marie tritt eine Anstellung als Küchenmagd in der imposanten Tuchvilla an, dem Wohnsitz der Industriellenfamilie Melzer. Während das Mädchen aus dem Waisenhaus seinen Platz unter den Dienstboten sucht, sehnt die Herrschaft die winterliche Ballsaison herbei, in der Katharina, die hübsche, jüngste Tochter der Melzers, in die Gesellschaft eingeführt wird. Nur Paul, der Erbe der Familie, hält sich dem Trubel fern und zieht sein Münchner Studentenleben vor – bis er Marie begegnet …


Meine Meinung:

Wie bewerte ich ein Buch, dass bei AM*ON fast 5 Sterne hat und auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste stand - und was ich einfach nur doof fand?

Offen und ehrlich. Und etwas ratlos. Denn ich verstehe weder, wie diese unglaublich guten Bewertungen zustande kommen, noch wie dieses Buch samt beider Nachfolger auf die SPIEGEL-Bestseller-Liste fanden.

Oder habe ich einfach keinen massentauglichen Geschmack?

Ich liebe Familiensagas und hatte mich auch auf diese gefreut.
Doch durch den ersten Band habe ich mich jetzt fast ein Jahr gequält.

Selten habe ich mit so unsympathischen und gleichzeitig wirklich flachen und unrealistischen Charakteren zu tun gehabt. Es war kaum zu ertragen.

Da ist die Hauptperson, die Waise Marie, die als Küchenmädchen arbeitet und intelligenter redet und daher kommt, als jeder ihrer Dienstherren (und -damen).
Man fragte sich die ganze Zeit, wo sie so zu reden gelernt hat. Und was sie sich - sorry - zum Teil heraus nimmt.

Ich erinnere mal an das hervoragend dargestellte Küchenmädchen in der Serie Downton Abbey, die so schüchtern ist, dass sie selbst den anderen Dienern des Hauses gegenüber kaum 3 Sätze heraus bekommt, in der Hackordnung ganz unten steht, daher nicht einmal in ihrem Dasein der Herrschaft begegnet (und andernfalls vor Scham wohl tot umgefallen wäre) und sich irgendwann mit Schulbüchern beginnt zu quälen, die sie kaum versteht.

Gerade diese starren Hierarchien, das nach oben Buckeln und nach unten Treten, waren speziell im deutschen Kaiserreich (!)  Anfang des letzten Jahrhunderts noch von extremer Bedeutung. Anders hätte die Monarchie gar nicht funktioniert.

Ähnlicher Standesdünkel klang hier auch in der Kurzbeschreibung an. Zumal Marie als Waise im Prinzip gar keine Lobby hat. Soweit die historische Realität, mit der sich die Autorin scheinbar überhaupt nicht auseinandergesetzt hat.

In deren Welt reist Marie mit der Herrschaft herum, verteilt an diese Ratschläge und ist auch sonst einfach nur völlig aus ihrer Rolle.
Dabei wirkt sie aber nicht einmal sympathisch, sondern gelinde gesagt vorlaut, blasiert und nervig.

Das Aschenputtelschema greift hier gar nicht.
Ich glaube, ich hätte sie irgendwann für ihr Gequatsche gekündigt.

Ich konnte dieser Figur das nicht abnehmen.
Das wirkte einfach alles zu unglaubwürdig und gekünstelt.

Stattdessen verliebt sich der Sohn des Hauses natürlich in das Küchenmädchen.
Mit Heiratsantrag, das Komplettpaket. Und man fragt sich die ganze Zeit, warum.

Weder hat dieser Sohn irgendeine Persönlichkeit, die er sein eigen nennt (und wenn, dann hat die Autorin vergessen, ihm diese zu schreiben), noch versteht man dadurch die Gefühle, die er da entwickelt.

Musste aber für den Spannungsbogen offenbar sein.
Wirkte aber nur noch unglaubhafter.

Zu dieser Zeit hat man als Industriellensohn andere Möglichkeiten, wenn sich die Hormone zu Dienstboten verirren. Aber ganz sicher nicht die Heirat.

Überhaupt spielt die Zeit, in der dieser Buch angesiedelt ist (wir reden hier von 1913, dem Vorabend des 1. Weltkrieges!), nicht wirklich eine Rolle.
Hier wurde unglaublich viel Potential verschenkt oder sich einfach nicht mit beschäftigt.

Dazu kamen viele handwerkliche Schnitzer.

Da erzählt z.B. die eine Tochter des Hauses, die mittlerweile in Paris lebt, dass sie so froh ist, dass ihr Liebster Französisch spricht, denn er würde für sie übersetzen.
Im selben Atemzug bestellt sie im besten Französisch im Restaurant und stellt auch gleich noch andere Personen sprachlich versiert einander vor.

Unnötig zu sagen, dass auch Marie den fanzösischen Wortwechsel problemlos versteht.

Selbige Tochter findet das Küchenmädchen übrigens genauso toll wie ihr Bruder und würde am liebsten mit ihr zusammenziehen.

Spuky erschien mir auch die Passage, in der die Hebamme zu spät zu einer Geburt heraneilt, sie hört bereits das Neugeborene schreien, als sie das Haus betritt. Wenige Minuten später äußert ein Hausbewohner, wie schnell diese Geburt doch ging, die Hebamme brauchte bloß noch die Beine herausziehen.

Ähh.. das heißt, der Säugling schrie bereits, als nur sein Kopf zwischen den Beinen seiner Mutter hervorschaute? Finde nur ich das seltsam?

Ich war irgendwann nur noch genervt, bin aber auch nicht der Mensch, der Bücher einfach abbricht.
Also im wahrsten Sinne des Wortes: Augen zu und durch.




Fazit:

Ich gebe zu, ich bin durch die hervorragend recherchierten Gut-Greifenau-Bücher von Hanna Caspian verwöhnt. Aber das hier ist einfach nur peinlich und hätte auch gut als Groschenroman durchgehen können. Denken braucht man nicht. Der Geist der Zeit wurde überhaupt nicht eingefangen.
Da ist einfach nur jemand auf den Familien-Saga-Zug aufgesprungen, der sich gerade so gut verkauft.





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